Eine Gegenposition zu Linnemanns Vorschlag eines Registers für psychisch auffällige Gefährder

Gewaltprävention oder Stigma?

 

Das Thema psychische Gesundheit liegt mir seit jeher am Herzen. Ich bin mit Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen aufgewachsen und habe selbst in Einrichtungen gearbeitet, in denen ich hautnah erlebt habe, wie dringend Unterstützung benötigt wird. Auch als Lehrerin und in meiner Beratung von Familien mit selektiven Kindern, sowie über meinen Instagram-Kanal @selektiver.mutismus habe ich viele Kinder und Jugendliche mit psychischen Herausforderungen kennengelernt – und gesehen, wie verzweifelt Familien und Betroffene oft über Jahre hinweg nach Hilfe suchen.
Diese Erfahrungen haben mir gezeigt, wie groß die Hürden sind, die Menschen mit psychischen Erkrankungen überwinden müssen. Der Vorschlag eines Registers für psychisch auffällige Menschen löst in mir deshalb große Besorgnis aus. Statt Unterstützung anzubieten, würde ein solches Register das Risiko von Stigmatisierung, Ausgrenzung und Misstrauen verstärken.
Psychische Erkrankungen sind keine Straftaten, sondern menschliche Herausforderungen, die Empathie, Verständnis und professionelle Hilfe erfordern. Mit dieser Stellungnahme möchte ich dazu beitragen, Missverständnisse aufzuklären, falsche Annahmen zu hinterfragen und konstruktive Alternativen aufzuzeigen. Unsere Gesellschaft sollte darauf abzielen, Menschen auf ihrem Weg zur Heilung zu begleiten, statt sie zu kontrollieren oder zu brandmarken.

 

Der Vorschlag eines Registers für psychisch auffällige Gefährder wirft erhebliche ethische, rechtliche und praktische Fragen auf. Im Folgenden werden die zentralen Gegenargumente dargestellt, um die Problematik dieses Ansatzes zu beleuchten und alternative Lösungen vorzuschlagen.

1. Stigmatisierung psychisch erkrankter Menschen

Ein solches Register könnte die Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen verstärken. Psychische Krankheiten sind keine Straftaten, sondern medizinische Zustände, die mit professioneller Hilfe behandelt werden müssen. Ein Register könnte Betroffene davon abhalten, Hilfe zu suchen, aus Angst vor Diskriminierung oder der Aufnahme in eine Datenbank.

2. Unklare Kriterien und Definitionsprobleme

Es bleibt unklar, welche psychischen Erkrankungen als 'gefährlich' eingestuft würden und wer diese Entscheidung trifft. Psychische Krankheiten sind äußerst vielfältig, und nur ein Bruchteil der Betroffenen stellt eine Gefahr für andere dar. Pauschale Einordnungen könnten willkürlich und ungenau sein und falsche Verdächtigungen fördern.

3. Vertrauensverlust in das Gesundheitssystem

Ein Register würde das Vertrauensverhältnis zwischen Patient*innen und Therapeut*innen oder Ärzt*innen massiv gefährden. Psychisch Erkrankte könnten aus Angst vor staatlicher Überwachung auf notwendige Behandlungen verzichten, was langfristig zu einer Verschärfung der Probleme führen könnte.

4. Datenschutz und Persönlichkeitsrechte

Ein solches Register greift tief in die Persönlichkeitsrechte ein und steht im Widerspruch zu geltenden Datenschutzbestimmungen. Psychische Erkrankungen sind sensible Informationen, deren Offenlegung das Recht auf Privatsphäre verletzt. Derartige Eingriffe wären schwer mit der Verfassung und der UN-Behindertenrechtskonvention vereinbar.

5. Gefährdung durch unbehandelte Personen

Menschen, die potenziell gefährlich sind, suchen oft bewusst keine Hilfe und würden folglich auch nicht in einem solchen Register erfasst werden. Gerade diejenigen, die sich einer Diagnostik oder Behandlung entziehen, bleiben außerhalb der Reichweite von Hilfesystemen und Überwachungsmechanismen. Ein Register würde somit vor allem jene Menschen betreffen, die bereits Hilfe suchen oder in therapeutischer Betreuung sind – also gerade die, die Verantwortung für ihre Gesundheit übernehmen und weniger gefährlich sind. Dadurch entsteht eine trügerische Sicherheit, während die eigentliche Gefährdung durch unbehandelte Personen weiterhin besteht.

6. Fehlender Bezug zur öffentlichen Sicherheit

Es gibt keine empirischen Belege dafür, dass psychisch erkrankte Menschen häufiger Straftaten begehen als andere. Im Gegenteil: Sie sind häufiger Opfer als Täter. Der Vorschlag verlagert die Aufmerksamkeit von anderen sicherheitsrelevanten Themen wie Extremismus oder Waffengesetzen.

7. Unzureichender Fokus auf Prävention

Statt eines Registers sollten die Ressourcen in präventive Maßnahmen investiert werden, z. B. in die frühzeitige Unterstützung von Menschen mit psychischen Erkrankungen, bessere Ausbildung von Ärzt*innen und Therapeut*innen sowie in Aufklärungskampagnen, um Vorurteile abzubauen. Niedrigschwellige Therapie- und Unterstützungsangebote für gefährdete Gruppen können effektiver dazu beitragen, Risiken zu minimieren.

8. Mangel an Therapieplätzen als zentrales Problem

Der Vorschlag eines Registers lenkt von einem der zentralen Probleme im Umgang mit psychischen Erkrankungen ab: dem akuten Mangel an Therapieplätzen. Der Zugang zu therapeutischer Unterstützung ist in Deutschland oft durch lange Wartezeiten und eine begrenzte Zahl zugelassener Psychotherapeut*innen eingeschränkt. Viele Menschen erhalten keine oder nur verzögerte Hilfe, was ihre Situation verschlimmern und potenziell auch Gefährdungen erhöhen kann. Eine Ausweitung der Zulassungen und die Schaffung zusätzlicher Kapazitäten im therapeutischen Bereich könnten wesentlich dazu beitragen, rechtzeitig Hilfe zu leisten und Eskalationen zu verhindern.

9. Fehlende Prävention von Radikalisierung

Ein Register für psychisch auffällige Menschen greift zu kurz, da es nicht auf die Ursachen von Gewalt oder gefährlichem Verhalten eingeht. Studien zeigen, dass Radikalisierung und Gewaltbereitschaft oft durch soziale Isolation, Armut oder extremistisches Gedankengut gefördert werden – nicht allein durch psychische Erkrankungen. Ein solches Register würde diese wichtigen Aspekte übersehen und Ressourcen falsch priorisieren.

10. Psychische Erkrankungen ≠ Gewaltbereitschaft

Die Annahme, dass psychisch erkrankte Menschen häufiger gefährlich sind, ist wissenschaftlich nicht belegt. Laut Studien sind Menschen mit psychischen Erkrankungen nicht gewalttätiger als die allgemeine Bevölkerung. Im Gegenteil: Sie sind häufig Opfer von Gewalt. Ein Fokus auf diese Gruppe wäre diskriminierend und würde das gesellschaftliche Bild von psychisch erkrankten Menschen verzerren.

11. Praktische Umsetzbarkeit fragwürdig

Ein solches Register wäre extrem schwer umzusetzen: - **Wer trägt die Verantwortung?** Ärzt*innen und Therapeut*innen dürften sensible Daten aufgrund der ärztlichen Schweigepflicht nicht melden. - **Wie werden Daten erhoben?** Ohne die Zustimmung der Betroffenen könnte dies illegal und verfassungswidrig sein. - **Kosten-Nutzen-Verhältnis:** Der administrative Aufwand und die Kosten für die Einführung und Pflege eines solchen Registers wären enorm, ohne dass eine nachweisbare Verbesserung der Sicherheit gewährleistet ist.

12. Gefahr des Missbrauchs

Ein solches Register birgt die Gefahr, für andere Zwecke missbraucht zu werden. Arbeitgeber, Versicherungen oder Behörden könnten versuchen, auf die sensiblen Daten zuzugreifen. Dies würde das Vertrauen in staatliche Institutionen und das Gesundheitssystem erheblich gefährden und die Rechte der Betroffenen verletzen.

13. Fokus auf Überwachung statt Hilfe

Die Einführung eines Registers suggeriert, dass psychisch erkrankte Menschen primär überwacht und kontrolliert werden müssen, anstatt ihnen zu helfen. Dies verstärkt die gesellschaftliche Ausgrenzung und lenkt von der dringend benötigten Unterstützung und Prävention ab. Ein solcher Fokus auf Überwachung ist nicht mit einem inklusiven Gesellschaftsbild vereinbar.

14. Verstärkte Diskriminierung in anderen Bereichen

Ein Register könnte dazu führen, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen auch in anderen Lebensbereichen benachteiligt werden, z. B. bei der Arbeitssuche, im Gesundheitswesen oder bei Versicherungen. Die Konsequenz wäre eine weitere soziale Isolation der Betroffenen, die ohnehin oft unter Vorurteilen und Benachteiligungen leiden.

15. Keine Problemlösung bei Gewaltkriminalität

Gewalttaten haben oft multifaktorielle Ursachen – wie soziale Spannungen, finanzielle Notlagen oder politische Ideologien. Ein Fokus auf psychische Erkrankungen greift zu kurz und löst die zugrunde liegenden gesellschaftlichen und sozialen Probleme nicht. Stattdessen wird eine Gruppe pauschal kriminalisiert, was keine effektive Strategie gegen Gewaltkriminalität darstellt.

Fazit

Ein Register für "psychisch auffällige Gefährder" (was auch immer man darunter dann verstehen würde), würde nicht nur das Risiko von Stigmatisierung und Diskriminierung erhöhen, sondern auch ethische und rechtliche Probleme aufwerfen. Es würde die eigentlichen Gefährder nicht erfassen und würde dazu führen, dass Betroffene notwendige Hilfe meiden. Statt auf Überwachung sollte der Fokus auf Prävention, Therapie und gesellschaftliche Inklusion gelegt werden, um psychisch erkrankten Menschen zu helfen und die Sicherheit der Gesellschaft nachhaltig zu fördern. Dazu gehört insbesondere die Erhöhung der Zulassungen für Psychotherapeut*innen und der Ausbau der therapeutischen Versorgung, um Betroffene frühzeitig zu unterstützen und Risiken zu minimieren. 
 

 

Mit selektivem Mutismus leben, Mutismus überwinden

Kerstin- Mutismus überwinden

Was hilft auf dem Weg den selektiven Mutismus überwinden? Kerstin schenkt und einen Einblick in ihre Erfahrungen und Einsichten.

Liebe Kerstin, Danke für dein Zeigen, für deinen Mut, und für all dein zukünftiges Wirken für Kinder, die schnell übersehen werden. 
 

Wie ich meinen Weg trotz selektivem Mutismus gegangen bin: Eine Reflexion

Als junge Frau mit selektivem Mutismus war mein Lebensweg oft von Herausforderungen und Ängsten geprägt. Doch ich habe es geschafft, meinen Traum, Lehrerin zu werden, zu verfolgen und zu verwirklichen. Dabei war ich niemals allein. Die Unterstützung durch authentische, wertschätzende Menschen, die an mich und meine Fähigkeiten glaubten, war der wichtigste
Schlüssel zu meinem Erfolg.
 

Der Glaube an mich: Ein Fundament der Stärke 

Schon als Kind wurde ich von Menschen umgeben, die mich bestärkten und mir Mut machten, auch wenn ich selbst oft nicht an mich glaubte. Ein prägendes Erlebnis war das Vorlesen einer Fürbitte in der Kirche. Niemand zweifelte daran, dass ich das schaffen könnte – vor allem meine Großmutter nicht. Mit ihrer Zuversicht und ihrem ehrlichen Lob meiner Lesefähigkeiten wurde diese Herausforderung zu einem Erfolg, der mich nachhaltig stärkte. Auch mein Wunsch, Lehrerin zu werden, wurde von meiner Familie bedingungslos unterstützt.
Obwohl ich außerhalb der Familie nicht sprach, betonten meine Eltern immer wieder, wie gut ich erklären könne. Diese Bestätigung gab mir das Vertrauen, dass mein Traum möglich war – ein Vertrauen, das mir half, nach der Grundschule aufs Gymnasium zu gehen.


Rückschläge und der Glaube anderer an mich

Doch auf dem Gymnasium stieß ich auf mangelnde Wertschätzung. Mein Schweigen wurde dort nicht als Ausdruck einer tief verwurzelten Angst verstanden, sondern als Schwäche interpretiert. Die Folge war, dass ich die Schule mit einem Hauptschulabschluss verließ – und mit dem Gefühl, eine Versagerin zu sein. In dieser Zeit waren es meine Familie, mein Mathelehrer und meine Fahrlehrerin, die mich auffingen.

Die prägende Rolle meines Mathelehrers und meiner Fahrlehrerin 

Mein ehemaliger Mathelehrer war ein großes Vorbild für mich. Er wirkte in jeder Unterrichtsstunde nervös und unsicher und wurde – genau wie ich – von meinen Klassenkameraden auf dem Gymnasium geärgert. Doch während ich daran zerbrach, blieb er stark und setzte seinen Unterricht fort. Seine Haltung zeigte mir, dass es möglich ist, auch mit Nervosität und Unsicherheit seinen Weg zu gehen.


Meine Fahrlehrerin war nur wenige Jahre älter als ich. Sonst fühlte ich mich von Gleichaltrigen oft missverstanden, doch bei ihr war es anders. Sie akzeptierte mich, wie ich war, ohne mich zum Sprechen zu drängen. Stattdessen begegnete sie mir auf Augenhöhe und sprach ganz normal mit mir, ohne eine Antwort zu erwarten. Diese geduldige Haltung ermöglichte es mir, Vertrauen zu fassen und bereits ab der sechsten Fahrstunde mit ihr zu sprechen – sie war die erste Person außerhalb meiner Familie, mit der ich 2013 wieder sprach.

Der Musikverein als Ort der Bestärkung


Seit 2007 bin ich Mitglied in einem Musikverein, der für mich eine unglaublich wertvolle Rolle gespielt hat. Obwohl ich zu Beginn kein Wort sprach und mich kaum traute, Trompete zu spielen, wurde ich herzlich aufgenommen und als vollwertiges Mitglied wertgeschätzt. Mein
Trompetenlehrer, der zugleich der Dirigent war, und die anderen Mitglieder gaben mir immer wieder Mut. Sie versicherten mir, dass Fehler – wie falsche Töne – völlig normal seien. Niemand erwartete von mir, zu sprechen, und ich erhielt alle Zeit, die ich brauchte, um mich zu öffnen. Nach einigen Jahren begann ich, im Musikverein zu sprechen und Trompete zu spielen. Seit Anfang 2024 bin ich sogar die Dirigentin des Vereins. Die Unterstützung und der Rückhalt der Vereinsmitglieder sind unermesslich wertvoll für mich. Sie stärken mich, wenn ich nervös bin, lächeln mir vor und nach jedem Stück zu und geben mir das Gefühl, dass ich niemals allein bin.
Auch wenn der Musikverein nicht direkt mit meinem beruflichen Werdegang zusammenhängt, hat er mir stets Kraft gegeben und mich motiviert, meinen Traum vom Lehramt nicht aufzugeben.


Die prägende Rolle meiner Logopädin und Psychotherapeutin


Ein besonders bedeutender Wendepunkt begann im Mai 2022 mit meiner Logopädin. Sie ist eine empathische, hochsensible und introvertierte Person, die mich lesen kann wie ein offenes Buch.
Bei ihr weiß ich, dass ich mich nicht verstecken muss. Ihre Unterstützung geht weit über die Arbeit an meiner Stimme und meinen Sprechängsten hinaus. Sie zeigt mir, dass Fehler menschlich und wertvoll sind – auch für mich. Durch sie habe ich gelernt, meine Fehler anzunehmen, sie wertzuschätzen und aus ihnen zu lernen. Wenn ich an meine Grenzen stoße, erinnere ich mich daran, wie stolz sie auf mich ist, und schöpfe daraus neue Kraft.
Auch meine Psychotherapeutin, die mich von 2016 bis Anfang 2024 begleitete, war eine entscheidende Stütze. Ihre außergewöhnliche Empathie half mir, meine Ängste und Erfahrungen besser zu verstehen. Sie arbeitete eng mit meinen Berufsschullehrkräften zusammen, um mich optimal zu unterstützen, und vermittelte mir, wie wichtig es ist, sich selbst und die eigene Geschichte anzunehmen.


Dankbarkeit und Blick nach vorn
Heute bin ich im Vorbereitungsdienst und stolz auf meinen bisherigen Weg. Ich weiß, dass ich diesen ohne die bedingungslose Wertschätzung und den Glauben von anderen Menschen an mich nicht hätte gehen können. Diese Erfahrungen haben mir gezeigt, wie wichtig es ist, Kinder und Jugendliche nicht auf ihre Ängste oder Schwächen zu reduzieren, sondern sie als ganze Menschen zu sehen – mit Potenzialen, die sich oft erst unter den richtigen Bedingungen entfalten. Es ist mein Ziel, diese Haltung als Lehrerin weiterzugeben und Kindern die Unterstützung zu bieten, die ich selbst erfahren habe. 

Denn ich weiß aus eigener Erfahrung: 

Der Glaube an einen Menschen kann Berge versetzen.

 

Emilia´s Geschichte

Leben mit Mutismus

Hier schenkt uns Emilia (Name geändert) einen Einblick in ihr Leben und Erleben mit Mutismus. 
 

1. Wie alt bist du heute?

Ich bin 28 Jahre alt.

 

2. Wie und wann hast du/ihr erfahren, dass du an selektivem Mutismus leidest?

Die Diagnose Mutismus habe ich mit ca. 12 Jahren bekommen. Zuvor habe ich etwa 1-2 Jahre bereits nicht mehr außerhalb von zu Hause oder vertrauten Orten sprechen können. Es hat aber eine Weile gedauert, bis meine Eltern das erfahren und dann entsprechende Schritte eingeleitet haben.

 

3. Was war in deiner Kindheit für dich besonders einprägsam?

Der Mutismus ist bei mir in der Kindheit noch nicht aufgetreten. Ich war wohl im Kindergarten bereits zu Beginn eher ruhig und hatte Schwierigkeiten, dort anzukommen. Das hat sich aber nach ein paar Wochen gelegt und ich bin sehr gerne in den Kindergarten gegangen und habe mich dort auch normal beteiligt. In der Grundschule war es ähnlich. Ich war bis dahin – würde ich sagen -ein relativ aufgeschlossenes Kind. Trotzdem hatte ich immer wieder auch schon als Kind verschiedene Ängste, die ich aber oft nicht mit meinem Umfeld geteilt, sondern für mich behalten habe. Gesprochen habe ich, soweit ich mich erinnern kann, aber eigentlich immer.

Später – mit Mutismus – erinnere ich mich hauptsächlich an das Gefühl, eingefroren und nicht mehr handlungsfähig zu sein. Ich war wie erstarrt und konnte nicht mehr reagieren, mich nicht mehr bewegen und nicht mehr sprechen. Alles um mich herum habe ich ganz weit weg wahrgenommen. Ich habe mich oft unglaublich hilflos und unverstanden gefühlt. Ich konnte mich nicht auf mich selbst verlassen, mich aber auch nicht ausdrücken und anderen Menschen mitteilen. Das war sehr frustrierend und hatte nicht selten auch weitreichende Folgen, weil v.a. fremde Menschen die Situation nicht einschätzen konnten und überfordert waren.

 

4. Gab es Menschen, die besonders gut mit dem Selektiven Mutismus umgegangen sind? Wenn ja, wie haben sie sich verhalten?

Menschen, die mir und meinem Nicht-Sprechen-Können mit Gelassenheit und ohne Erwartungen begegnet sind, waren für mich meist am angenehmsten. Ich konnte dann am besten sprechen oder mich an einer Situation beteiligen, wenn dem Mutismus nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt und ich weitgehend normal behandelt, trotzdem aber gesehen und nicht ignoriert wurde. Es gab immer wieder auch Menschen, die meine „Not“ hinter dem Nicht-Sprechen gesehen und versucht haben, mir einen Raum zu geben, um darüber zu sprechen oder mich auszudrücken. Auch das hat mir sehr gutgetan. Ich war zu diesem Zeitpunkt ja aber auch bereits älter und habe sehr unter dem Mutismus und seinen Folgen gelitten.

 

5. Wie hast du die Schulzeit erlebt?

Die Schulzeit auf dem Gymnasium habe ich als sehr belastend wahrgenommen. Ich musste stets meine schlechten mündlichen Leistungen ausgleichen und habe nur wenig Verständnis und Unterstützung vonseiten der Schule erhalten. Die Lehrer und die Rektorin der Schule haben mich zum Teil sehr unter Druck gesetzt, zu sprechen und mich zu beteiligen. Andernfalls sollte ich die Schule verlassen. Das wurde mir mehrmals in dieser Form angedroht. Dadurch stand ich unter extremem Leistungsdruck und habe ständig gelernt und trotzdem immer das Gefühl gehabt, nicht gut genug zu sein. Ich hatte viel Angst zur Schule zu gehen und auch nur wenig Anschluss dort gefunden. Die Schule selbst habe ich als sehr anstrengend empfunden, vor allem an langen Schultagen war ich anschließend sehr erschöpft und reizüberflutet. Ich hatte ständig Kopfschmerzen und war immer irgendwo zwischen Überforderung, Angst, Erschöpfung, Stress und Verzweiflung.

Ich war schriftlich eine sehr gute Schülerin und habe schlussendlich auch ein relativ gutes Abitur gemacht, dennoch hat sich der Mutismus enorm auf meinen Schulabschluss ausgewirkt.

 

6. Was waren für dich absolute no go's?

Druck, Zwang, Erpressung und „Kontrolle“. Mein System (Eltern, Schule, Therapeutinnen) war recht gut vernetzt. Das ist sicherlich grundsätzlich sehr positiv. In meinem Fall wurde das allerdings primär ausgenutzt, um zu „kontrollieren“, ob ich alle Anforderungen erfülle. Ich hatte in der Schule z.B. „Auflagen“, die ich erfüllen musste, um auf der Schule bleiben zu dürfen (z.B. mich in einem bestimmten Zeitraum X- Mal im Unterricht melden, im Sportunterricht mitmachen, Referate halten etc.). Ich habe das nie geschafft, aber der Schulverweis war wohl nicht umsetzbar, vielleicht auch nur Druckmittel. Alles, was unter Druck passiert ist, war für mich negativ besetzt. Auch scheinbare „Erfolge“ – also Situationen, in denen ich gesprochen habe, haben sich für mich schlimm angefühlt.

 

7. Was hat dir geholfen, den Selektiven Mutismus Schritt für Schritt zu überwinden?

Der Mutismus ist erst besser geworden, als ich das Schulsystem verlassen habe. Auch an der Uni war es nicht einfach, aber die Menschen dort waren verständnisvoller und die Anpassung von Prüfungsformen war wesentlich unkomplizierter. Dass der Druck nachgelassen hat und ich selbst entscheiden konnte, welche Schritte ich mir zutraue, hat mir schon einmal sehr geholfen. Das Wichtigste für mich war, dass ich in den letzten Jahren einen Ort gefunden habe, an dem ich mich absolut sicher und angenommen fühle und an dem es keine Erwartungen an mich gibt. An diesem Ort konnte ich mich in einem geschützten Rahmen Schritt für Schritt und aus meiner eigenen Motivation heraus weiterentwickeln. Ich habe den Eindruck, dass Selbstbestimmung für mich eine wichtige Rolle bei der Überwindung des Mutismus spielt. Es hilft mir außerdem, wenn ich mich bei einem Thema sicher und kompetent fühle und gut auf die Gesprächssituation vorbereitet bin.

 

8. Wie ist dein heutiger Stand bezüglich des Selektiven Mutismus?

Ich habe den Mutismus nie ganz überwunden, auch wenn er in meinem Alltag oft keine so große Rolle spielt. Ich würde allerdings auch sagen, dass ich mein Leben und meinen Alltag in manchen Bereichen an den Mutismus angepasst habe. Auf der anderen Seite bin ich beruflich im sozialen Bereich selbstständig und darin ständig mit für mich herausfordernden kommunikativen Aufgaben konfrontiert. Diese Situationen machen mir im Vorhinein oft Angst, gleichzeitig habe ich eine innere Gewissheit, dass ich diese sprechend bewältigen kann. Ich habe nur noch ab und zu wirkliche Sprech- und Handlungsblockaden, fühle mich aber in Situationen mit fremden Menschen (z.B. bei Geburtstagen oder bei Treffen mit mehreren Personen im Freundeskreis) oft sehr unsicher. Wenn ich nicht alle Personen gut kenne, bin ich dabei sehr still und empfinde es auch als sehr anstrengend. Telefonate, Arztbesuche oder andere Termine sind teilweise noch immer schwierig.

 

9. Gibt es etwas, das du gerne loswerden möchtest

Ich fände es schön, wenn sich die Möglichkeit ergeben würde, dass sich die Betroffenen, die sich auf deine Anfrage gemeldet haben, untereinander vernetzen könnten. Sofern das auch von anderen gewünscht ist, natürlich. 

 

 

Der Blog wird sich nach und nach füllen und ist aktuell noch im Aufbau.

 

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